Ein aktueller Frühlingslook von Marc Cain. 

Werksbesichtigung
Bei Marc Cain trifft Technologie auf Tradition

Das Modeunternehmen Marc Cain hat schon früh mit neuen Technologien experimentiert. Innovationsgeist und der richtige Riecher haben die Marke aus der Schwäbischen Alb in der ganzen Welt bekannt gemacht.

Es dauert keine Stunde, dann ist der Pullover fertig: Er ist flauschig, weich, völlig nahtlos und in einem zarten Pfirsichton. Gestrickt wurde er nicht von einem Menschen mit wundersam schnellen Händen, sondern von einer Maschine der Marke Stoll. Durch ein Sichtfenster sind die auf- und abfliegenden Nadeln zu sehen, die schon den nächsten Pullover in Arbeit haben.

Genau 54 Minuten später rutscht dieser in die knapp über dem Boden angebrachte Auffangschale. Fix und fertig? «Leider nicht», sagt Karl-Moritz Kraus, der die Strickerei bei Marc Cain leitet, und lacht. «Das Teil ist noch total unförmig und die Haptik weit von den Vorstellungen des Designers entfernt.» Der Pulli wird noch sehr viele Male in die Hand genommen, bevor er, mit exotischen Blüten bedruckt und in leicht angerauter Optik, den Weg in die Verkaufsregale antreten darf.

Am Anfang der komplexen Digitaldrucke standen Experimente mit herkömmlichen Bürodruckern. (Alle Bilder: PD) 

Marc Cain – das klingt wie eine Mischung aus Marc Jacobs und Calvin Klein, nach internationaler Mode und grosser weiter Welt. Tatsächlich ist es das: eine Modemarke mit 168 eigenen Läden, über 300 Shop-in-Stores und der Präsenz in 727 Fachhandels- Geschäften in rund 60 Ländern. Allerdings: alles in Deutschland produziert. Und zwar nicht in Berlin, Düsseldorf oder München, sondern in Bodelshausen, einem knapp 6000-Einwohner- Städtchen in der tiefsten deutschen Provinz.

Provinz statt Trendstadt

Dort, hinter einem Penny-Markt, einer Tankstelle, einer Kreissparkasse und dem Hotel zur Sonne, befindet sich das Gewerbegebiet West, wo ein hochmoderner, schneeweisser Gebäudekomplex zwischen Teichen, hohen Farnen und perfekt geschnittenen Buchsbaum-Kugeln an der Marc-Cain-Allee steht.

«Unser Campus», sagt Helmut Schlotterer gerne, wenn er von seinem durchgestylten Firmenareal spricht. Das passt. Das Büro des Firmengründers schwebt oberhalb eines 13 Meter hohen, lichtdurchfluteten Atriums, das auch in New York oder Mailand eine gute Figur machen würde.

Die Werkshallen von Marc Cain: viel Licht, Glas und Weiss.

Es waren wohl diese Trendstädte, die ihm in jungen Jahren als Basis seines zukünftigen Modeunternehmens vorschwebten. Doch es kam anders. «Mein Vater bestand auf einem Studium der Textiltechnik. Im Gegenzug finanzierte er mir anschliessend ein Jahr in Paris», erzählt er. Als der Strickwarenbetrieb der Familie finanziell ins Trudeln geriet, kehrte Helmut Schlotterer nach Bodelshausen zurück. Die Region galt einst als Zentrum der deutschen Textilindustrie, bis in die achtziger Jahre webten, strickten und nähten dort Hunderte von Betrieben.

Übrig geblieben ist eine Handvoll, darunter Trigema mit dem berühmten Affen als Maskottchen, die Lingerie- Label Mey und Speidel und eben Marc Cain. 1973 von Helmut Schlotterer gegründet, heute eine weltweit operierende Premium-Marke für Damenmode. In der Strickerei wird gerade die nächste Wintersaison produziert, auf einem Paneel sind die vielen verschiedenen Garne zu sehen, die dafür zum Einsatz kommen.

Die Marc-Cain-Manufaktur verfügt über sieben Rundstrickmaschinen. 

«Diese Kollektionen zu planen, ist für uns eine besondere Herausforderung», sagt Karl-Moritz Kraus, «wir befinden uns mitten in einer Pandemie, aber wir produzieren für eine Zeit, von der wir hoffen, dass das Virus überstanden sein wird. Wir möchten trotz allen Schwierigkeiten eine super Kollektion und genügend Ware haben.» Wie zur Bestätigung nimmt er einen leichten, hellgrauen Pulli vom Bügel. «Ein typisches Marc-Cain- Modell», sagt er, «nahtlos und grob gestrickt, das können die wenigsten.»

Zusammenspiel von Technik und Design

Das Geheimnis dahinter ist eine 3-D-Technologie, die als wegweisend für ein besonderes Traggefühl und für ein ökologisches, nahezu abfalloses Herstellungsverfahren gilt. Pullover, Hosen, Röcke, Mützen, Jacken oder Mäntel können komplett am Stück und ohne jede Naht in einem einzigen Arbeitsgang gefertigt werden. Nicht bei jedem Modell ist das möglich.

Zurück in der Strickerei: Dort werden für einen eleganten schwarzbraunen Spickelrock klassische Teilstücke aus unterschiedlichen Materialien produziert. Doch auch diese kommen mit einem raffinierten Streifenmuster aus fast transparenten Bahnen, kordelähnlichen Bisen und einer Fransenbordüre aus der Maschine.

Man steht davor und glaubt an ein Wunder. «Nein, das ist Technik», sagt Karl-Moritz Kraus mit seinem weichen schwäbischen Akzent, «die Bisen entstehen durch das Raffen überschüssiger Maschen, die man braucht, um die Fransen entstehen zu lassen. Das Raffen sorgt auch für die gewünscht unruhige Transparenz der schwarzen Streifen.»

Ein noch unförmiger Pullover kommt aus der 3-D-Strickmaschine. 

Es ist das Zusammenspiel von Design und Stricktechnik, das diese ungewöhnlichen, oft überraschenden Effekte ermöglicht. Die Kunst besteht in der computergesteuerten Programmierung der Strickmaschinen und im Gespür für das, was möglich ist. Was können wir aus welchem Material machen? Mit welcher Technik? Mit welcher Maschine? Wobei die Strickerei nur ein Teil der Marc-Cain- Produktion ist.

Denn ganz gleich, ob fertiger 3-D-Artikel, formgestrickte Sequenz aus Vorderteil, Rücken und Ärmel, oder Flächen, aus denen Formen geschnitten und vernäht werden: Jedes Stück muss nach einer ersten akribischen Qualitätskontrolle zum «Ausrüsten », wie es im Fachjargon heisst.

Experimente mit Bürodrucker

In der Etage über der Strickerei wird die Rohware gewaschen, gebügelt, in Form gepresst, mit besonderen Chemikalien behandelt, aufgeraut, bedruckt – je nachdem, welche Optik das Design erfordert. Dabei kommen selbst entwickelte und nach eigenen Vorgaben gebaute Maschinen zum Einsatz oder gekaufte, die noch nachjustiert wurden, weil sie den Anforderungen nicht zu hundert Prozent entsprachen. Das Prinzip «Vorsprung durch Technik» ist typisch für Marc Cain.

Helmut Schlotterer hat stets auf innovative Technologien gesetzt und seine Mitarbeiter ermutigt, sich an deren Entwicklung zu beteiligen. Dass das funktioniert, hat auch mit der teilweise sehr langen Betriebszugehörigkeit der über 900 Mitarbeiter zu tun. Learning by doing geht eben nicht von heute auf morgen, und auch das Verständnis komplizierter technischer, chemischer oder physikalischer Prozesse braucht seine Zeit.

Wenn auch vieles heute mit Technologie gefertig wird, bleibt bei Marc Cain der Manufaktur-Charakter erhalten. 

Produktionsleiter Josef Mathias Stoll ist seit 29 Jahren im Unternehmen tätig. Er erinnert sich noch gut an die ersten Digitaldruck-Experimente. «Vor 25 Jahren wusste kein Mensch, wie das geht. Wir versuchten es mit einem normalen Bürodrucker, den wir mit im Baumarkt gekaufter Seidenmalfarbe aufgefüllt hatten. Das ging völlig in die Hose.» Inzwischen ist Digitaldruck eine weitverbreitete Veredelungstechnik – nicht nur bei Marc Cain.

Allerdings wird in den meisten Unternehmen Meterware bedruckt, in Form geschnitten und zusammengenäht. Die Muster sind an den Nahtstellen unterbrochen, fliessende Übergänge unmöglich. Nicht so in Bodelshausen. «Wir konzentrieren uns auf nahtlos gedruckte Ganz- oder Halbfertigteile», erklärt Josef Mathias Stoll, «auch diese Prozedur haben wir uns selber beigebracht und die geeigneten Druckmaschinen dafür entwickelt.» So hat jeder Artikel seinen eigenen Werdegang, der ohne Handarbeit undenkbar wäre.

Manufaktur-Charakter trotz Innovation

«Trotz aller innovativen Technik: Wir sind und bleiben ein Unternehmen mit Manufaktur-Charakter», sagt Helmuth Schlotterer nicht ohne Stolz, «bei uns gibt es keine Roboter, die Prozesse sind nicht vollautomatisiert. Wenn irgendwo ein Faden reisst, wird er per Hand neu eingefädelt, kleine Materialfehler werden von unseren Repassiererinnen geduldig und vollkommen unsichtbar repariert.»

«100% made in Germany»: Ein dank 3-D-Technologie nahtlos gestrickter Wollpullover. 

Von seinen Mitarbeitern wird Helmut Schlotterer als Hands-on-Chef beschrieben, der jeden Arbeitsprozess kennt und sich kein X für ein U vormachen lässt. Offenbar kennt er auch das Geheimnis der erfolgreichen Markenbildung. Das Kunststück, Marc Cain von einem kleinen Strickbetrieb auf der Schwäbischen Alb in einen international bekannten Modekonzern zu transformieren, ist ihm jedenfalls gelungen.

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